Standpunkte
Blick in die Sammlung #7
Die Medienguidebeiträge zur Ausstellung finden Sie hier.
(Die Ausstellung fand in Verschränkung mit „Stellung beziehen. Käthe Kollwitz, Mona Hatoum“ statt.)
Ausgehend von Käthe Kollwitz’ und Mona Hatoums Arbeiten werfen wir einen neuen Blick in die Sammlung der Kunsthalle Bielefeld und präsentieren Werke, die als Standpunkte gelesen werden können. Ihnen ist gemeinsam, dass sie widerständig gegenüber dem Bestehenden sind. Gegenbildern zum Hier und Jetzt stehen Arbeiten direkter Kritik am aktuellen Zustand gegenüber. Auch wird die Frage verhandelt, wie wir im medialen Zeitalter Standpunkte einnehmen.
Mit Georg Baselitz, Max Beckmann, Monica Bonvicini, Karl Haendel, Robert Longo, Otto Mueller, Emil Nolde, Germaine Richier, Katharina Sieverding u. a.
Was für eine Geste ist hier zu sehen?
Monica Bonvicini hat einen Abguss ihrer Unterarme angefertigt. Dieser Abguss war Vorlage für diese Skulptur. Laufen Sie einmal um die Arbeit herum. Haben Sie die Spiegelung im dunklen Glas bemerkt? Dadurch können Sie sogar die Unterseite der Skulptur sehen. Wie fein die Arme ausgearbeitet sind.
Der Titel des Werks spielt auf Protest und Widerstand an: „Up in Arms“ bedeutet ungefähr „in Waffen stehen“. Aber passen die zarte Farbe und die feinen Linien der Arbeit dazu?
Das scheint ein Widerspruch zu sein. Glas ist zerbrechlich. Herunterfallen darf die Skulptur nicht. Zärtlich können diese Arme sein. Kämpferisch aber ebenso!
Die italienische Künstlerin Monica Bonvicini untersucht in ihren Werken Machtverhältnisse und Geschlechterrollen. Sie thematisiert Abhängigkeiten und Widerstand. Oft greift sie auch in die Architektur von Ausstellungsorten ein und hinterfragt die mit ihnen verbundenen Machtstrukturen – die Architektur ist bis heute ein überwiegend männlich geprägter Bereich, denken Sie an die sogenannten ,Stararchitekten‘.
Text: Matthias Albrecht
Eingesprochen von: Matthias Albrecht
Aufnahme und Schnitt in Kooperation mit dem Making Media Space im Digital Learning Lab der Universität Bielefeld.
Was sagt dieses Bild aus? Was meinen Sie?
Eine Leinwand wurde mehrfach durchstochen. DAS ist das Bild.
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was sich hinter der Leinwand eines Gemäldes befindet? Genau das möchte der italienische Künstler Lucio Fontana sichtbar machen. Dazu braucht er keinen Pinsel. Sondern ein Messer oder eine Schere. Damit erweitert er die Fläche des traditionellen Tafelbildes in die dritte Dimension: der Raum wird sichtbar. Das ist für die Kunst Ende der 1940er Jahre revolutionär. Hier unternimmt jemand etwas ganz Neues. Keine Illusion, keine Abbildung eines Gegenstandes. Nicht einmal Farbe.
Schauen Sie einmal genau. Wie ist Lucio Fontana vorgegangen? Wurden die Löcher ganz schnell hintereinander in die Leinwand geschnitten? Oder vielleicht langsam, mit Bedacht? Die Anordnung sieht nicht nach Zufall aus, sondern beschreibt eine lose kreisförmige Gruppierung mit einem unverletzten Leinwandbereich ungefähr in der Mitte. Es geht Fontana nicht um Provokation oder um eine spontane Geste. Es geht nicht um Zerstörung. Sondern darum, die Möglichkeiten der Kunst zu erweitern. Und darum, Licht in den Raum hinter der Leinwand zu bringen.
Übrigens: ,Concetto Spaziale‘ bedeutet auf Deutsch ,Raumkonzept‘. So hat der Künstler fast alle seine Werke seit 1949 betitelt. Die 51 steht für das Entstehungsjahr 1951, B 11 ist die Nummer 11. Das B steht für ,Buchi‘, dem italienischen Wort für ,Löcher‘.
Text: Matthias Albrecht
Eingesprochen von: Nadine Kleinken
Aufnahme und Schnitt in Kooperation mit dem Making Media Space im Digital Learning Lab der Universität Bielefeld.
Hier nehmen wir Sie mit nach Italien, in die kleine Hafenstadt Pirano bei Triest. Eine unbeschwerte Gondelfahrt bei strahlendem Sonnenschein? Ein sommerliches Idyll?
Max Beckmann verbringt hier mit seiner ersten Frau und dem gemeinsamen Sohn seinen Sommerurlaub. Aber nach Spaß und Erholung sieht das nicht aus. Betrachten Sie die Menschen im Boot. Sie werden feststellen, dass sie nicht miteinander sprechen oder singen. Sie sind voneinander abgewandt. Der Mann rechts am Segel, Max Beckmann selbst, starrt und singt ins Leere. Wie wirken die anderen Personen auf Sie?
Die Eindrücke werden durch die Farben unterstrichen. Wie bei der Darstellung des Himmels besonders gut zu sehen, trübt der Künstler alle Farben durch die Beimischung von Schwarz. Damit nimmt er der Darstellung den sommerlichen leuchtenden Eindruck. Das ungewöhnliche schmale Hochformat des Bildes trägt weiterhin zu einer gedrückten bedrängten Atmosphäre bei, wie sicher auch die verzerrt dargestellte Architektur des Ortes. So unterstreichen die gewählten künstlerischen Mittel die Bildaussage.
Das Bild entsteht 1925. Max Beckmann ist noch verheiratet, stellt aber mit der Dame im grünen Kleid bereits seine spätere Frau Quappi in dem Bild dar. Und nicht die Frau, mit der er noch verheiratet ist. Eine verzwickte Situation. Offenbar fühlte sich der Künstler nicht wohl darin.
Text: Matthias Albrecht
Eingesprochen von: Charlotte-Sophie Laege
Aufnahme und Schnitt in Kooperation mit dem Making Media Space im Digital Learning Lab der Universität Bielefeld.
Eine ganze Wand voller Bilder und dennoch ist dies nur ein kleiner Teil der 366 Zeichnungen, die der US-Amerikaner Robert Longo für das Magellan-Projekt angefertigt hat. Longo hat jeden Tag ein Foto aus seinem persönlichen Bildfundus ausgesucht. Indem Longo die farbigen Originale in einheitliche Grautöne und Bildformate überführt, verschmelzen kollektive und individuelle Erfahrungen zu einer gemeinsamen Bilderfolge, die uns als Ganzes bekannt vorkommt aber dennoch fremd ist.
Ist Ihnen das Bild mit den vielen menschlichen Schädeln schon aufgefallen?
Im April 1975 übernahmen die Roten Khmer die Macht in Kambodscha. In nur vier Jahren wurden unter dem kommunistischen Diktator Pol Pot dreißig Prozent der Bevölkerung getötet: Intellektuelle, Journalisten, Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen und alle als ausländische Agent bezeichneten Personen. Dieses Bild stammt aus Berichten darüber.
Ein weiteres Bild an der Wand prägte das kollektive Gedächtnis der Zeit. Von Weitem sieht es wie ein komisch geformter, schiefer Turm aus. Wenn Sie es gefunden haben und näher hinsehen, können Sie darauf jedoch Wrackteile eines Flugzeuges erkennen.
Am 17. Juli 1996 startete eine Boeing der US-Fluggesellschaft Trans World Airlines unter der Flugnummer TW 800 in New York-JFK. Nach nur 13 Minuten Flug gab es eine Explosion und die Trümmer stürzten vor der Küste von Long Island ins Meer. Alle 230 Insassen starben. Schnell entstanden verschiedene Verschwörungstheorien zur Explosionsursache, an denen sich viele über das noch recht neue Medium Internet unmittelbar beteiligten und die sich trotz beendeter Ermittlungen teils bis heute halten.
Longo fängt hier die kollektive Alltagserfahrung ein, dass unsere Kultur- und Meinungsbildung durch Medienprodukte mitgestaltet werden. Sie beeinflussen unser Verhalten und Emotionen und erzeugen Beziehungen. Wir küssen, wohnen, weinen wie im Film. Als Fans reagieren wir mit Trauer, Freude oder Wut auf Dinge, die unseren Idolen passieren, obwohl wir sie nie persönlich kennengelernt haben.
Erkennen Sie weitere Bilder wieder? Welche Motive stammen wohl aus welcher Quellenart? Finden Sie die Undies aus einem Modemagazin, Bernadette oder den Comic Strip?
Text: Nadine Kleinken
Eingesprochen von: Nadine Kleinken
Aufnahme und Schnitt in Kooperation mit dem Making Media Space im Digital Learning Lab der Universität Bielefeld.
Sie sind Teile aus einer Serie von 68 Variationen, C-Prints, Glas, Holzrahmen
Blicken uns hier unterschiedliche Personen entgegen? Oder sind es dieselben Gesichtszüge, die mal durch grelles weißes Licht eingeebnet und mal durch rote Schatten stark betont werden? Katharina Sieverding nutzt immer wieder Porträts von sich selbst und verändert oder verfremdet diese, um Fragen nach Identität und Präsentationsmechanismen zu stellen. Das ist auch in der Serie Nachtmensch so.
Mit der eindeutig künstlichen Beleuchtung und starren Gesichtszügen vor dem leeren, schwarzen Hintergrund stellen diese Porträts keine Nähe zu einer individuellen Persönlichkeit her, sondern erzeugen Distanz. Mimik, Schminke und Beleuchtung erzeugen die Wirkung einer Maske. Hier stellt sich nicht eine Person, sondern eine Inszenierung vor.
Sieverding macht so in den 1980ern und 1990ern auf etwas aufmerksam, das heute auf Instagram und co. für viele bewusst zum Alltag gehört: Die gezielte Beeinflussung der medialen Selbstdarstellung. Erinnern Sieverdings Bilder nicht ein wenig an die unterschiedlichen vorgefertigten Effekte und Filter, die wir in wenigen Klicks auf jedes Foto legen können?
Sieverdings Kunst macht darauf aufmerksam, dass jede Form der Selbstdarstellung immer auch etwas Politisches hat. Sie wird von den Regeln unserer Gesellschaft mitbestimmt. Auf Social Media, bei Familienfesten, in der Schule oder unter Arbeitskolleg*innen: je nach Situation und Thema äußern wir auf unterschiedlichem Wege und mehr oder weniger deutlich unsere Überzeugungen – oder eben nicht. Wir betonen bestimmte Teile unserer Persönlichkeit – oder halten sie zurück.
Text: Nadine Kleinken
Eingesprochen von: Matthias Albrecht
Aufnahme und Schnitt in Kooperation mit dem Making Media Space im Digital Learning Lab der Universität Bielefeld.
Auf den ersten Blick scheint sehr klar, warum dieses Werk Unfinished Obama heißt, schließlich sind die weißen, vorskizzierten aber nicht ausgefüllten Flächen kaum zu übersehen. Oder sind sie doch eher ein Ausdruck von dem, was in Obamas niedergeschlagenen Augen liegt? Ist ,unvollendet‘ das Schlagwort für ein Bedauern darüber, dass Obama nach zwei Amtszeiten nicht erneut als Präsident der USA antreten konnte und es nun in den Händen seines Nachfolgers Donald Trump lag, wie angefangene gesellschaftliche Veränderungen sich entwickeln? Zumindest hatte der damalige Direktor der Kunsthalle das Bild in einem Internet-Blog entdeckt, in dem Künstler*innen auf den Sieg von Donald Trump 2016 reagierten. Die unfertige Form stellt Obama aber auch in die Reihe historischer US-amerikanischer Politiker. Haendels Werk erinnert an Gilbert Stuarts Gemälde ,George Washington unfinished‘ (The Athenaeum) von 1796. Dieses Washington-Porträt schmückt den Ein-Dollar-Schein, im Original ist es jedoch von viel unbemalter Leinwand umgeben. Beide Bilder finden Sie auf Ihrem Display.
Politiker*innen müssen jeden Tag mehr oder weniger öffentlich Stellung beziehen und sie fordern uns stetig auf zu ihnen Stellung zu beziehen, gerade im Wahlkampf. Dabei nutzen sie verschiedenste Medien: Plakate, Zeitungsinterviews, Debatten und Werbevideos im Fernsehen. Die größte Bedeutung haben momentan aber personalisierte Nachrichtenkanäle: Facebook, Tik Tok, X und co. Obama war in seinem Wahlkampf 2008 der erste, der ihre Schlagkraft zu nutzen wusste. Er gewann seine vielen und vor allem jungen Wähler*innen und Geldgeber*innen über die persönliche Ansprache mit E-Mails, SMS, auf Facebook usw. 2016 hatten auch andere aus diesem Beispiel gelernt. Dieser Wahlkampf war geprägt von Fake News zu Kandidat*innen und Wahlkampfthemen auf Social Media. Teile davon gehörten zu einer gezielten Desinformationskampagne, die vermutlich von Russland ausging. Donald Trump warb mit micro-targeting um Wähler*innen. Das heißt er nutzte die Möglichkeit, durch Social Media-Algorithmen kleinste Zielgruppen mit passgenauer politischer Werbung zu erreichen. All das wird aktuell durch die zunehmende Verbreitung von Texten, Bildern und Videos verschärft, die mit Künstlicher Intelligenz erstellt wurden. Gerade wenn es um die politische Meinungsbildung geht, stehen wir immer wieder neu vor der Frage: Wie gehe ich persönlich und wie gehen wir als Gesellschaft mit dem Einfluss von Medien um?
Text: Nadine Kleinken
Eingesprochen von: Charlotte-Sophie Laege
Aufnahme und Schnitt in Kooperation mit dem Making Media Space im Digital Learning Lab der Universität Bielefeld.